Dubai: Glanz, Schatten und die Gesichter dahinter

Dubai boomt – wirtschaftlich, touristisch, überall.
Kein Wunder: Immer Sonne, perfekte Infrastruktur, Luxus selbst für die breite Masse, dazu das warme Wasser des Persischen Golfs, das eher an eine Badewanne erinnert als an ein Meer.

Die Geschichte dieser Stadt ist einzigartig. Noch in den 1950er Jahren ein kleines Handelsdorf, begann spätestens zu Beginn der 2000er ein Aufstieg, der seinesgleichen sucht. Wolkenkratzer schossen in Rekordzeit aus dem Boden. Der Burj Khalifa – heute das Wahrzeichen Dubais – wurde in nur sechs Jahren gebaut (2004–2010). Zum Vergleich: Der Berliner Flughafen BER brauchte 14.

Wer durch die Straßen Dubais zieht, wird von all dem Prunk und Glanz erschlagen. Ich selbst hatte 2019 einen einwöchigen Stopover auf dem Rückflug aus Sambia eingeplant. Ein bisschen Action, Fallschirmspringen, shoppen, Cocktails an der Strandbar – so hatte ich es mir vorgestellt.

Doch schon der erste Moment riss mich aus dieser Vorfreude. Am Abend vor dem Flug hatte ich mit Freunden noch einen Abschiedsumtrunk genossen, und als ich schließlich in Dubai landete, ging es mir nicht besonders gut. Kaum trat ich aus dem klimatisierten Flughafen, schlug mir die Hitze wie eine Faust ins Gesicht. Ich fühlte mich regelrecht erschlagen.

Der Kontrast war brutal: zwei Wochen Afrika – Armut, Natur, Wildnis – und jetzt plötzlich zwischen Beton, Glasfassaden und Palmen. Und dann diese Hitze: über 40 Grad an diesem Tag. Ich war völlig erledigt, wollte einfach nur schlafen, doch mein Hotelzimmer war noch nicht fertig. Also tat ich, was ich in solchen Situationen immer tue: Ich machte mich zu Fuß auf den Weg, die Umgebung zu erkunden.

Nach vielleicht anderthalb Minuten – nicht mehr! – war ich komplett durchgeschwitzt. Ich kaufte mir drei Flaschen Wasser und setzte mich unter eine Brücke. In der Nähe saßen Arbeiter, die dort Pause machten. Offenbar sah ich so hilfebedürftig aus, dass einer von ihnen mich ansprach, ob ich Hilfe bräuchte. Ich erklärte ihm, dass ich nur verzweifelt Schatten gesucht hatte. Das amüsierte ihn sichtlich. Als ich seine leere Wasserflasche bemerkte, bot ich ihm eine von meinen an. Erst wollte er nicht, doch ich bestand darauf – und so saßen wir schließlich nebeneinander, stießen mit unseren Plastikflaschen an. Auf was? Keine Ahnung. Vielleicht einfach auf „Freundschaft“.

Sein Name war Bilal. 34 Jahre alt, doch ich hätte ihn auf mindestens 50 geschätzt. Seine Haut war tiefbraun, die schwarzen Haare vom grauen Baustaub überzogen. Die Kleidung löchrig, zerschlissen, und doch hatte er ein freundliches Lächeln im Gesicht. Seine Augen – warm, aber vom Leben gezeichnet. Tiefe Falten, eine ledrige Haut, geformt von Sonne und Arbeit.

Wir unterhielten uns – so, wie es Reisende tun, die weit weg von zuhause aufeinandertreffen. Wo kommst du her? Was führt dich hierher? Wie lange bleibst du? Er erzählte mir seine Geschichte. Eine, die ich schon so oft gehört hatte – und die mich doch jedes Mal aufs Neue trifft.

Bilal kam aus Pakistan. Ursprünglich hatte er nur ein Jahr bleiben wollen, um Geld für seine Familie zu verdienen. Dann wollte er zurückkehren. Doch aus diesem Jahr waren inzwischen sechs geworden. Als er wegging, war seine Tochter drei Jahre alt, die zweite gerade unterwegs. Seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen – nicht einmal per Videoanruf. Das könne er sich schlicht nicht leisten.

Ich weiß nicht, wie oft ich solche Geschichten schon gehört habe, aber sie lassen mich niemals kalt. Immer wieder reißen sie mir das Herz auf. Ich fragte ihn, ob er nicht Lust hätte, am Abend mit mir essen zu gehen – auf meine Einladung. Doch er schüttelte den Kopf, lehnte dankend ab. Stattdessen schlug er etwas völlig Unerwartetes vor: Ich solle doch zu ihm und seinen Leuten kommen. Sie würden kochen.

Er tippte mir eine Adresse ins Handy. Etwas außerhalb der Stadt, aber mit dem Taxi zu erreichen. Wir verabschiedeten uns fürs Erste, und am Abend, gegen 21 Uhr, stieg ich ins Taxi. Als ich dem Fahrer die Adresse nannte, verzog er das Gesicht. „Dorthin?“ Er wollte mich zunächst gar nicht fahren. Erst als ich drohte, mir einen anderen Wagen zu suchen, lenkte er widerwillig ein. Warum er mich nicht hinbringen wollte, verstand ich nicht. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es gefährlich wäre.

Doch als wir die glitzernde Skyline hinter uns ließen, änderte sich das Bild Dubais schlagartig. Keine glänzenden Fassaden, keine luxuriösen Straßen. Stattdessen: verfallene Häuser, Schmutz, Armut, wohin man sah.

Als wir schließlich ankamen, stand Bilal bereits auf der Straße. Offenbar hatte ihm ein Freund Bescheid gesagt, dass jemand mit dem Taxi unterwegs sei. Vielleicht war genau das der Grund, warum der Fahrer mich nicht hinbringen wollte. Doch Bilals Freude, als er mich erblickte, war ehrlich und herzlich – sie wischte sofort alle meine Zweifel fort.

Ich hatte unterwegs noch ein Päckchen Baklava gekauft. Mit leeren Händen wollte ich dort nicht auftauchen. Als ich es ihm überreichte, strahlte er, als hätte ich ihm einen Schatz gegeben. Gemeinsam traten wir durch ein schiefes Stahltor in einen Innenhof, von dem unzählige Treppen und Türen abgingen. Und plötzlich war ich mitten in einer Menschenmenge – über hundert Augenpaare richteten sich auf mich.

Wäre Bilal nicht so überglücklich gewesen, hätte ich mir in diesem Moment wohl vor Angst in die Hosen gemacht. Ich fühlte mich winzig klein, fehl am Platz. Doch Bilal lachte, breit und laut, und sofort löste sich die Anspannung. „Hätte ich das gewusst, hätte ich mehr Baklava mitgebracht“, sagte ich halb im Scherz. Die Menschen um uns herum begannen zu lachen, und auf einmal war das Eis gebrochen.

Man bot mir einen Stuhl an, reichte mir Tee. Ich wurde begrüßt, als wäre ich Teil dieser Gemeinschaft – dabei war ich doch nur ein Fremder, der zufällig unter einer Brücke gesessen hatte. Und doch: In diesem Moment fühlte es sich an, als wäre ich willkommen, so, wie ich bin.

Es wurde gelacht, es wurde gegessen, und ich hörte unzählige Geschichten. Alle ähnelten sich. Fast jeder, den ich traf, war nach Dubai gekommen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch irgendwann stellte sich mir eine Frage, die ich nicht mehr zurückhalten konnte: Wenn euer Leben hier nicht besser geworden ist – warum bleibt ihr?

Die Antwort war immer dieselbe: Schulden. Oder schlicht das fehlende Geld für ein Flugticket.

Einer der Männer erhob sich schließlich und bot mir an, mir die Unterkünfte zu zeigen. Ab hier begann für mich das, was ich bis heute als persönliches Trauma bezeichne.

Wir gingen durch die schmalen, stickigen Gänge des Gebäudes. Vor mir öffneten sich Türen zu Räumen ohne Fenster, ohne Klimaanlage. Jeder Raum vielleicht fünf mal fünf Meter groß – und dennoch vollgestopft mit Doppelstockbetten. Selbst die Mitte des Raumes war mit Betten zugestellt. Wer nach hinten wollte, musste sich seitlich durch die schmalen Gassen zwängen.

Zwölf bis sechzehn Männer schliefen hier – in einem einzigen Raum. Für ein Bett zahlten sie zwischen 50 und 100 Dollar im Monat. Viele teilten sich sogar die Liegefläche: Tagsüber der eine, nachts der andere. „Tag- und Nachtschichten“ nicht nur auf der Baustelle, sondern auch beim Schlafplatz. Manche Betten waren nicht mehr als ein nacktes Holzbrett, darauf ein paar zerschlissene Decken. Manchmal ein Kopfkissen. Mehr nicht.

Ich stand da, atmete schwer, und fühlte mich wie in einer Kriegsreportage. Diese hygienischen Zustände – so katastrophal, dass man schon beim bloßen Anblick glaubte, eine Krankheit einzufangen. Der Gestank, die stickige Luft, der Schmutz: Es überrollte mich. Ich musste alle Kraft aufbringen, die Fassung zu bewahren. Denn so sehr mich die Gefühle in diesem Moment überwältigten – ich wollte nicht respektlos wirken gegenüber den Männern, die mich hierhergeführt hatten.

Draußen fuhr ein alter Bus vor. Er sah aus wie ein ausrangierter Gefängnisbus: rostige Gitter vor den Fenstern, keine Scheiben, die Karosserie zerbeult. Einige Männer stiegen aus, müde, erschöpft, wortlos. Bilal erklärte mir, dass dies der Bus sei, der die Arbeiter morgens auf die Baustellen bringt und abends wieder zurück. Dafür müssten sie bezahlen. Wie für alles hier. Der Bus, das Bett, das Essen, die Kleidung – nichts sei umsonst. Sogar ihre Arbeitskleidung müssten sie sich selbst kaufen.

Ich fragte Bilal, was ihm am Ende des Monats bleibe. Er schaute mich an, lächelte bitter und sagte: „Ich habe Glück. Ich bin Schweißer. Ich verdiene 300 Dollar. Davon schicke ich jeden Monat 100 Dollar an meine Familie.“ Nach Abzug von Bus und Schlafplatz blieben ihm rund 50 Dollar für sich selbst. 50 Dollar, um zu überleben – in einer Stadt, in der mein Taxi hierher allein 35 Dollar gekostet hatte. In zwei Tagen würde ich über 500 Dollar für einen Fallschirmsprung ausgeben. Ein Erlebnis, das mir Luxus und Nervenkitzel versprach – während Bilal davon Monate leben könnte.

Auch nach all den Jahren und all den Erlebnissen, die ich auf Reisen gesammelt habe – ich kann bis heute schwer begreifen, was ich dort gesehen habe. Diese Bilder brennen sich ein, sie lassen sich nicht einfach abstreifen wie Staub von der Kleidung. Sie verfolgen mich.

Ich schämte mich in diesem Moment. Schämte mich für meinen Luxus, für meine Sorgen, die mir plötzlich so nichtig, so bedeutungslos vorkamen. Wie klein wirken all die Probleme, die mich in meinem Alltag oft so belasten, wenn ich sie mit Bilals Realität vergleiche?

Mein erster Impuls war, sofort mein Portemonnaie zu zücken und diesen Menschen all das Geld zu geben, das ich dabeihatte. Doch tief in mir wusste ich: Das wäre falsch. Beleidigend sogar. Denn stell dir vor, du bist in dieser Lage, kämpfst täglich um deine Würde – und plötzlich kommt irgendein dahergelaufener Typ und wirft dir ein paar Scheine hin. Nicht, weil er dir wirklich helfen will, sondern weil er sein eigenes Gewissen beruhigen muss. Genau das wäre es gewesen. Und genau das wollte ich nicht.

Die Nacht verging. Wir sprachen, lachten zwischendurch sogar, obwohl die Geschichten, die ich hörte, so schwer auf mir lasteten, dass es kaum zu ertragen war. Und dann – die Sonne ging langsam wieder auf. Ein neuer Tag in Dubai begann. Für mich bedeutete das Frühstück im klimatisierten Hotel. Für Bilal bedeutete es: zwölf Stunden in der prallen Sonne, auf einer menschenunwürdigen Baustelle, ohne Schutz, ohne Rücksicht auf seine Gesundheit.

Bevor er ging, wandte er sich zu mir, als wolle er sich entschuldigen, dass er jetzt fort müsse. Er lächelte, obwohl seine Augen verrieten, wie müde er war. Der Mann hatte die ganze Nacht mit mir verbracht, mir sein Leben gezeigt, mir alles erzählt – und jetzt ging er wieder schuften, als wäre nichts gewesen.

Ich stieg in mein Taxi, spürte die kühle Luft der Klimaanlage und sah ihn im Rückspiegel: wie er dort stand, mit gesenktem Kopf, auf diesen alten, rostigen Bus wartend. Der Bus, der ihn zurückbrachte in eine Welt, die wir uns kaum vorstellen können.

Wir verabredeten uns für übermorgen, zur selben Zeit, am selben Ort. Während Bilal also in schwindelerregender Höhe ohne Absicherung irgendwelche Stahlträger zusammenschweißte, saß ich beim Frühstück, ließ mir den Kaffee nachschenken und legte mich nach dem Essen noch einmal ins Bett. Und die Tage danach? Ich tat das, was Touristen in Dubai eben tun. Fallschirmspringen. 4x4-Dünenfahrt. Shopping in einer der unzähligen Malls. Ein Cocktail an der Poolbar.

In zwei Tagen verprasste ich rund 1.500 Dollar. 1.500 Dollar. Das sind fünf Monatsgehälter eines „gut verdienenden“ Arbeiters in Dubai.

Doch was ich in den kommenden Tagen erfahren sollte, ließ mich noch fassungsloser zurück. Denn es waren nicht nur die Männer, die in Dubai unter diesen Umständen lebten. Auch die Frauen – und ihre Geschichten waren mindestens genauso erschütternd.

Philippinerinnen, sagte man mir, seien wegen ihrer zurückhaltenden, höflichen Art besonders beliebt im Service. Afrikanerinnen hingegen – weniger „wert“. Sie finden sich eher im Hintergrund wieder, als Tellerwäscherinnen, Reinigungskräfte, Putzfrauen in den Villen der Reichen. Ihre Arbeitstage? Sechzehn Stunden, manchmal mehr. Ihr Lohn? Oft nicht einmal 200 Dollar im Monat. Nicht selten wird er zurückgehalten – „zur Sicherheit“, wie es heißt. Viele bekommen monatelang gar nichts. Manche werden geschlagen. Und wenn sie überhaupt irgendwo fest wohnen, dann unter denselben katastrophalen Bedingungen, die ich bei Bilal gesehen hatte.

Rein theoretisch gibt es in Dubai Arbeitnehmerrechte. Aber wie soll man sie durchsetzen, wenn man kaum Geld für das nächste Essen hat? Viele Frauen arbeiten jahrelang „auf Probe“. Ohne Vertrag, ohne Sicherheit. Gerade genug, um das Aufenthaltsvisum verlängern zu können – aber niemals genug, um sich ein Flugticket zurück in die Heimat zu leisten.

Ich verstand es lange nicht. Ich fragte: „Aber warum geht ihr nicht zurück? Ein Ticket kostet 400, 500 Dollar – das ist doch aufzutreiben?“ Doch die Antwort war immer dieselbe: Für sie ist diese Summe unüberwindbar. Was für uns nach einem Wochenendtrip klingt, ist für sie ein unüberwindbarer Berg.

Und dann war da dieses eine Vorstellungsgespräch, das ich inkognito mit ansehen durfte. Ich saß als Gast in einem Restaurant, unauffällig, in einer Ecke – und beobachtete.

Ein junges afrikanisches Mädchen, Anfang zwanzig, trat schüchtern ein. Der Mann, der das Gespräch führte, sah sie nicht an wie eine Bewerberin. Er sah sie an wie eine Ware, die er begutachtet. Er streckte ihr nicht die Hand hin – er befahl: „Zeig mir deine Hände!“ Sie tat es, ohne Widerrede. Offensichtlich war sie solche Demütigungen schon gewohnt. Dann: „Zieh deine Schuhe aus!“ Auch diesmal kein Zögern. Er kontrollierte ihre Füße, so wie andere vielleicht Obst auf dem Markt prüfen würden. Wie sie mir später erzählte wollte er wissen ob sie “sauber” ist.

Der Typ erklärte ihr die „Bedingungen“: Eine schwarze Hose, Lackschuhe, eine Bluse mit dem Logo des Restaurants. All das müsse sie selbst kaufen. Trinkgeld? Vielleicht nach einem halben Jahr – wenn sie sich bewähre. Aber wehe, sie käme mit Flecken auf der Kleidung. Wehe, sie hätte Mundgeruch. Wehe, ein Kunde beschwerte sich. Dann wäre sie sofort entlassen. „Wenn ich dich brauche, bist du hier. Wenn du Nein sagst, war’s das.“ Und schließlich: „Du kannst nächsten Montag anfangen. Vier Wochen Probezeit. Ohne Gehalt.“

Ich saß da und spürte, wie mir der Atem stockte. Probezeit – ohne Bezahlung. Vier Wochen schuften, Tag für Tag, ohne einen Cent zu sehen. Und die Kosten für Kleidung vorab von ihr selbst zu tragen.

Rechnen wir es durch: Hose zehn Dollar, Schuhe fünfzehn, Bluse fünf plus zwanzig fürs Bedrucken. Das sind schon 50 Dollar. Dazu die Fahrten durch die Stadt, um die Kleidung billig zu beschaffen – acht Dollar. Alles in allem knapp 60 Dollar. Wir erinnern uns: Ein guter Arbeiter verdient vielleicht 300 Dollar im Monat. Und von diesem Geld bleibt fast nichts übrig. Wie soll man das stemmen?

Für mich war sofort klar: Das ist unmöglich. Das kann sie nicht schaffen. Doch sie tat es. Sie nahm den Job an. Die Hoffnung, vielleicht irgendwann Trinkgeld behalten zu dürfen und ein ganz bisschen besseres Leben führen zu können, trieb sie an. Also arbeitete sie tagsüber im Restaurant – und putzte nachts zusätzlich, um zu überleben. Über einen Monat lang schlief sie kaum mehr als drei Stunden pro Nacht.

Am Ende? Wurde sie übernommen. Der erste Monat: kein Gehalt. Der zweite Monat: kein Gehalt. Dann – Entlassung. Der Grund? Sie hatte einmal, hungrig und erschöpft, von einem abgeräumten Teller eine kalte Pommes gegessen. Der Betreiber wertete das als Diebstahl. Und warf sie hinaus. Ohne je einen Cent an sie gezahlt zu haben.

Ich konnte es nicht glauben. Aber je mehr Geschichten ich hörte, desto klarer wurde mir: Das ist kein Einzelfall. Es ist System. Organisationen wie Health and Human Rights bestätigen, dass dieses Vorgehen gängige Praxis ist. Dass Menschen in Dubai unter einer so gewaltigen Arbeitslast und mit so vielen unbezahlten Überstunden schuften, dass ihr realer Lohn am Ende teilweise unter einem Dollar pro Tag liegt.

Einige Tage später stand ich wieder vor diesem schiefen Tor. Diesmal kam ich mit mehr Baklava, eine kleine Geste für alle, die mich dort erwarteten – außerdem hatte ich noch eine besondere Überraschung für Bilal. Schon von weitem sah ich ihn auf der Straße stehen, so als hätte er den ganzen Tag nur auf diesen Moment gewartet. Er wusste längst, dass ich kommen würde.

Drinnen, im Hof, war es wie beim ersten Mal. Überall Menschen, aber diesmal viele neue Gesichter. Eine andere Schicht, vermutete ich. Männer, die in der Nacht von der Arbeit zurückkamen, müde, aber voller Neugier auf den Fremden, der wiedergekommen war. Ich spürte sofort, dass ich willkommen war – und doch lastete eine Schwere auf mir.

Einer der Männer trat auf mich zu. Er streckte mir seine Hand entgegen. Erst dachte ich, er wolle mich begrüßen. Doch als ich genauer hinsah, stockte mir der Atem. Seine Hand hatte nur noch zwei Finger. Die restlichen waren bei einem Unfall auf der Baustelle verloren gegangen. Und so, wie die Wunden aussahen, war da nichts ordentlich versorgt worden. Keine Operation, keine Reha, nicht einmal eine richtige Behandlung. Einfach notdürftig verbunden, verheilt wie es eben ging – und vergessen.

Ich war schockiert. Mein Gesicht verriet mehr, als mir lieb war. Vielleicht nahm er genau das zum Anlass, mehr zu erzählen. Mit ruhiger Stimme, als wäre es das Normalste der Welt, sagte er: „Ich habe meinen Job verloren, weil ich am nächsten Tag nicht zur Arbeit erscheinen konnte. Vier Monate Lohn wurden mir gestrichen.“ Vier Monate – weg, nur weil er verletzt war.

Und dann erzählte er weiter. Worte, die mich bis heute nicht loslassen. In den letzten acht Jahren, sagte er, habe er zwölf Freunde verloren. Zwölf Männer, die wie er auf Dubais Baustellen gearbeitet hatten. Ich verstand nicht sofort. Er musste es klarer aussprechen: Zwölf Menschen, die tödlich verunglückt waren. Auf den Gerüsten, in der Hitze, bei Arbeiten in schwindelerregender Höhe – ohne Schutz, ohne Absicherung, ohne Rücksicht.

Ich wollte es nicht glauben. Ich wollte so sehr hoffen, dass es übertrieben war. Wieder so eine dieser Geschichten, die man sich erzählt, um Mitleid zu erzeugen. Aber als ich ihn ansah, spürte ich: Er meinte jedes Wort. Er sagte, dass er nur von einem einzigen Freund wisse, wo dieser begraben wurde. Alle anderen seien „ins Krankenhaus gebracht“ worden – so hieß es jedenfalls. Doch niemand habe je wieder etwas von ihnen gehört. Keine Nachricht, keine Beerdigung, kein Grab. Als hätte es diese Menschen nie gegeben.

Ich saß da, hörte zu, und es schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte weinen, wollte schreien, wollte irgendetwas tun – und doch saß ich einfach nur da, unfähig, diese Kälte, diese Gleichgültigkeit der Welt zu begreifen.

Später las ich Berichte. Offizielle Zahlen. Und ich musste feststellen: Das, was er mir erzählt hatte, war nicht bloß ein Hirngespinst. The Guardian veröffentlichte 2022 einen Bericht, in dem die Zahl genannt wurde: Rund 10.000 Tote pro Jahr allein auf Dubais Baustellen. Zehntausend. Jedes Jahr. Männer aus Süd und Südostasien – verschlissen, verunglückt, verschwunden.

Und jetzt lass dir diese Dimension auf der Zunge zergehen: In den Vereinigten Arabischen Emiraten schuften fünf bis sechs Millionen Migranten im Niedriglohnsektor. Sechzig Prozent der gesamten Bevölkerung. Allein in Dubai arbeiten rund zwei Millionen von diesen Menschen. Und jedes Jahr sterben dort – nicht insgesamt, nein: jedes Jahr – 10.000 Menschen nur im Baugewerbe.

In Deutschland sterben jährlich etwa 500 bis 650 Menschen bei der Arbeit. Von über 45 Millionen Beschäftigten. Runtergebrochen auf zwei Millionen wären das 28 Tote. Achtundzwanzig. Gegenüber zehntausend. Das bedeutet: In Dubai sterben auf den Baustellen pro Jahr 355 Mal mehr Menschen als in Deutschland – bei sämtlichen Arbeiten zusammen.

Ich konnte es nicht fassen. Und doch hatte ich es gesehen. Ich hatte die Menschen getroffen, die ihre Freunde verloren hatten. Ich hatte in ihre Augen gesehen – in Augen, die mir sagten: „Ja, es ist genau so schlimm, wie du es dir nicht vorstellen kannst.“

Es war mein letzter Abend mit Bilal. Schon als ich ankam, wusste er, dass es unser Abschied sein würde. Sein Lächeln war dasselbe wie zuvor – offen, herzlich, voller Wärme – und doch lag ein Schatten darin, ein unausgesprochenes Wissen. Wir verbrachten den Abend wie schon zuvor: mit Tee, mit Essen, mit Gesprächen, mit Lachen. Es war vertraut geworden, beinahe selbstverständlich, und gleichzeitig spürte ich jede Minute, dass es etwas Besonderes war.

Die Stunden vergingen, und gegen Ende des Abends holte ich mein Handy hervor. Ich hatte lange überlegt, ob ich es tun sollte, und dann reichte ich es ihm einfach. „Hier“, sagte ich, „ruf deine Familie an.“

Er nahm es vorsichtig in die Hand, fast ehrfürchtig, als hielte er etwas Zerbrechliches. Als das Display aufleuchtete und plötzlich das Gesicht seiner Frau erschien, geschah etwas, das man kaum beschreiben kann. Ein Ausdruck von purer Freude, so tief, dass er mich selbst überwältigte. Seine Augen füllten sich mit Tränen, seine Gesichtszüge veränderten sich, als hätte er für einen Moment alle Last der Jahre abgelegt.

Und dann tauchten seine Töchter auf. Zwei Mädchen, die er zuletzt gesehen hatte, als eine von ihnen gerade drei Jahre alt war und die andere noch gar nicht geboren. Sechs Jahre lang hatte er sie nur in Gedanken wachsen sehen – jetzt sah er sie auf dem Bildschirm, hörte ihre Stimmen, ihr Lachen. Zwei Stunden lang sprach er mit ihnen, lachte, stellte Fragen, ließ sie nicht mehr aus den Augen. In diesen zwei Stunden war er nicht der erschöpfte Arbeiter in Dubai. Er war Vater. Nur Vater.

Es fiel mir schwer, nicht selbst in Tränen auszubrechen. Ich hatte viele berührende Momente auf Reisen erlebt – aber keiner war so intensiv, so unverfälscht, so voller Leben.

Als das Gespräch endete, senkte er das Handy, und die Tränen liefen ihm übers Gesicht. Wir umarmten uns. Kein großes Wort, keine lange Rede – nur diese Umarmung. Und wir beide wussten, dass dies unser Abschied war.

Ich stieg in mein Taxi, während er zurückblieb. In diesem Moment hatte ich das Gefühl, einen Freund zu verlieren – und zugleich wusste ich, dass es Menschen wie er sind, die mein Bild von dieser Stadt für immer geprägt haben.

Nachdem ich Dubai verlassen hatte und wieder in meiner gewohnten Umgebung angekommen war, hielten Bilal und ich noch einige Monate Kontakt. Diese Art von Erlebnissen klingt länger nach als jeder gewöhnliche Urlaub. Der Fallschirmsprung war durchaus Instagramtauglich – aber nach zwei Wochen war er schon wieder egal, nur noch eine Erinnerung unter vielen. Doch so kitschig es klingen mag: diese Begegnungen haben meine Sicht auf mein Leben bis heute verändert.

Und trotzdem holt einen der Alltag irgendwann wieder ein. Auch die intensivsten Begegnungen rücken in den Hintergrund. Irgendwann kam keine Antwort mehr auf meine Nachrichten an Bilal. Ich weiß nicht, ob er Teil dieser grausamen Statistik geworden ist. Ich hoffe für ihn, für das junge Mädchen und für all die anderen, die noch immer in dieser Parallelwelt nach einem besseren Leben streben, dass sie es finden mögen.

Dich, als Leser:in, lasse ich mit dieser Ohnmacht zurück. Dieses Ende mag unbefriedigend sein. Aber genau das ist die Realität.


Die Frage bleibt: Was machen wir mit diesem Wissen?

Nicht mehr in Länder reisen, in denen Ungerechtigkeit herrscht? Aber was ist dann mit den Menschen, die vom Tourismus leben – und die nichts anderes sind als Opfer eines Regimes oder einer Regierung?

Die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht.

Wenn du eine Lösung hast, teile sie mit der Welt.

Vielleicht sollten wir uns wenigstens auf das kleinste Mindestmaß einigen: Wenn du nach Dubai reist, dann genieße es. Genieße die Lebensfreude, die Schönheit, den Zauber. Aber verschließe dich nicht vor der Realität – und lass dich nicht zu sehr vom Glanz blenden.

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Namibia hautnah